Der Donnerstag beginnt um 5:00 morgens mit packen und Auto ausräumen. Mama hatte mich gewarnt, dass Nadine 3 Gepäckstücke mitbringen würde. Da ich über die Größe nichts näheres wusste, räumte ich zur Sicherheit alles aus, was ich nicht unbedingt benötigte. Pünktlich um 7 war Abfahrt. Die Autobahnen waren trotz morgendlicher Stoßzeit erstaunlich leer. Als ich gerade in Medan von der Autobahn abgefahren war, bekam ich eine SMS von Mama. “Mein Chef hat gerade angerufen. Bin positiv.”
Auch wenn ich es schon geahnt hatte, hatte ich doch gehofft, dass sich das Ganze als normale Grippe entpuppen würde. Da mir klar war, dass mein Vater nun “mitgefangen” war, fragte ich, ob sie irgendwelche Lebensmittel benötigten, was sie aber dankend verneinte. Dennoch blieb ich kurz beim Supermarkt stehen und besorgte einen Bund Suppengrün. Vermutlich würde Mama nur Tee trinken und Suppe löffeln aber wenn, dann zumindest richtige Suppe mit Vitaminen und nicht aus diesen gruseligen Brühwürfeln. Doch für das Abliefern bei meinen Eltern blieb keine Zeit mehr, ich musste weiter zum Flughafen.
Schon so lange war ich an diesem für mich so bedeutsamen Tag, dem 29.10., nicht mehr am Flughafen gewesen. Deswegen freute ich mich doppelt, als ich auf der Bundesstraße dem Flughafen entgegenfuhr. Doch anders als sonst stiegen nicht vor meinen Augen die Flieger im Minutentakt in den Himmel. Es war so wenig Verkehr wie sonst nur nachts. Im Parkhaus fand ich bereits in der zweiten Etage einen freien Platz, früher hatte ich oft in die 5. fahren müssen. Das Willkommensplakat für meine Schwester klemmte ich mir zusammengerollt unter den Arm und machte mich auf den Weg in die Ankunftshalle. Nadine wartete schon, ihr Flieger war wohl früher gelandet. Während ich auf sie zuging, entrollte ich das Plakat. Sekunden später hatte ich eine schluchzende Nadine im Arm. Den emotionalen Ausbruch konnte ich ihr nicht verübeln; das Nachhausekommen nach fast 9 Monaten im Ausland hatte sie sich wohl auch anders vorgestellt. Als sie im Februar abgereist war, war noch alles in Ordnung gewesen; da hatten sie sogar noch viele für verrückt erklärt nach Südkorea zu fliegen, “dort wo das Virus ist”. Und nun kam sie wieder, kein großes Empfangskomittee am Flughafen, Mama mit Corona zuhause und die erste Nacht im eigenen Bett würde wohl noch 2 Wochen dauern. Sie tat mir unglaublich leid in dem Moment und gleichzeitig war ich froh, dass wenigstens ich für sie da sein konnte. So oft war ich in Momenten, wo sie mich gebraucht hätte, nicht dagewesen; doch diesmal war ich da.
Endlich hatten wir ihr Gepäck ins Auto verfrachtet und nun war zu klären, in welcher Reihenfolge wir weiter vorgehen würden. Wir mussten auf die Post, ich wollte Mama noch den Kürbis vor die Tür legen, Nadine brauchte für die Zeit, die sie nicht zuhause sein würde, einen temporären Internetanschluss und außerdem musste sie nachfragen, wie lange die Reparatur ihres Laptops dauern würde. Ich hatte schon eine Idee, in welcher Reihenfolge ich das alles abarbeiten wollte, um dabei möglichst wenig unnötige Wege zu machen. Nadine hatte jedoch andere Pläne. Ich wollte schon fast anfangen zu diskutieren, da musste ich mich wieder daran erinnern, sie als erwachsenen Menschen zu sehen, der eigene Entscheidungen treffen möchte und nicht als Kind, dem ich meinen Willen überstülpen kann. Und nach so langer Zeit, war ich froh, überhaupt Zeit mit ihr verbringen zu dürfen, und da war es eigentlich egal wo. “Du bist jetzt der Chef, du sagst an wo es hingeht, ich fahre. Einverstanden?” Sie schaute mich mit großen Augen an. “Okay, wenn du das sagst…dann möchte ich bitte gerne zuerst zur Post, damit ich den Schlüssel möglichst schnell los bin.” Während wir über die Autobahn bretterten, erzählte sie mir, warum sie den Schlüssel zu der Dienstwohnung, in der sie gelebt hatte, überhaupt noch hatte.
Ihre Kollegen hatten sie am letzten Abend mit einer Abschiedsfeier überrascht. Um 2 war sie wieder zurück gewesen und hatte schnell den letzten Rest zusammengepackt. Danach hatte sie die Müdigkeit übermannt und sie hatte sich eigentlich nur kurz hinsetzen und ein paar Minuten dösen wollen- dabei war sie tief und fest eingeschlafen. Punkt 4 war die Kollegin, die angeboten hatte sie zum Flughafen zu bringen, vor der Wohnung gestanden und hatte verzweifelt versucht, sie durch Hämmern gegen die Tür und unzählige Anrufe versucht, sie wachzubekommen. Erst 40 Minuten nach der geplanten Abfahrt war Nadine wach geworden und hatte in der Hektik des Aufbruchs komplett vergessen, den Schlüssel wie vereinbart in den Postkasten zu werfen. Nur der Tatsache, dass die Kollegin am Weg zum Flughafen sämtliche Geschwindigkeitsbeschränkungen konsequent ignoriert hatte, war es zu verdanken, dass sie den Flug nicht verpasst hatte. Eine typische Nadine-Aktion eben.
Nachdem wir den Schlüssel zur Post gebracht hatten, fuhren wir noch bei unseren Eltern vorbei. Auch wenn ich Mama nur aus mehreren Metern Entfernung sah, musste ich sorgenvoll feststellen, wie krank sie aussah. Auch unserem Vater, den wir draußen kurz sahen als er am Weg zum Corona-Test war, stand die Sorge ins Gesicht geschrieben, er sah gefühlte 5 Jahre älter aus. Als wir wieder im Auto saßen, brauchte ich Nadine nurz kurz in die Augen zu sehen und wusste sofort wohin sie wollte. “Und jetzt zu Oma?” sie nickte. Ich kämpfte mich also durch den städtischen Nachmittagsverkehr. Auch wenn Oma nicht viel Zeit gehabt hatte, sich auf unser Kommen vorzubereiten, packte sie das volle Verwöhnprogramm aus. Schon vor der Tür roch es verführerisch, und 15 Minuten später saßen wir vor einer leckeren Gemüsereispfanne. Kaum war die – deutlich leerer- in der Küche, folgten selbstgebrannte Mandeln und selbstgemachte Apfelchips. Erst war ich skeptisch, denn aus dem Supermarkt hatte ich die als labbrige Lappen un Erinnerung, die nach nichts schmeckten, aber diese waren knusprig, süß und schmeckten intensiv nach Apfel. Danach schlief Nadine fast am Tisch sitzend ein. Oma merkte das sofort. “Leg dich doch hin, Nadine!” – “Ja, aber wir müssen doch noch das Internet kaufen fahren…” – “Das können wir doch auch später machen” mischte ich mich ein.
Und so wurde Nadine ins Bett verfrachtet und ich blieb mit Oma alleine zurück. Doch auch mir fielen die Augen zu. Oma fackelte nicht lang, packte mich aufs Sofa und das letzte, woran ich mich erinnern konnte, war, dass sie eine flauschige Decke über mich legte.
Ich wurde erst wach, als es draußen bereits dämmerte. “Guten Morgen” sagte Oma. Verschlafen rieb ich mir die Augen. “Denkst du wir sollen Nadine wecken?” wollte sie von mir wissen. “Ja, wäre sicher besser, der Laden wo sie hinwill sperrt um 18:00 zu und wer weiß wie lang wir brauchen im Feierabendverkehr”. Nadine saß senkrecht im Bett als sie realisierte wie spät es war. “Hoffentlich schaff ich es noch rechtzeitig, ich muss ja dreimal umsteigen…” – “Nix mit umsteigen, ich hab doch gesagt, ich bring dich mit dem Auto rüber.” entgegnete ich. Wann hatten wir zuletzt so viel Zeit miteinander verbracht, wie an diesem Tag? Das wollte ich nach der langen Zeit auf alle Fälle ausnutzen, dafür warf ich mich sogar in dein Medaner Feierabendverkehr. Nachdem wir beim türkischen Elektronikshop unseres Vertrauen Ersatzteile für Nadine´s Laptop bestellt und unlimitiertes, 30 Tage nutzbares Internet gekauft hatten und unsere Eltern ein letztes Mal gefragt hatten, ob sie mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt waren, fuhren wir zurück zu Oma. Wir waren gerade 5 Minuten unterwegs gewesen, da leuchtete auf meinem Armaturenbrett plötzlich eine Warnleuchte auf. Na toll, auch das noch. Dabei war ich doch vor 2 Wochen erst beim Service gewesen. Nach 200m kam eine Tankstelle, dort fuhr ich ran. Nadine sah mich fragend an. Ich deutete auf das Warnsymbol. “Da leuchtet etwas, was normalerweise nicht leuchtet. Das ist nicht gut.” – “Und was machen wir jetzt?” – “Nachschauen, was das bedeutet. Im Handschuhfach müsste die Betriebsanleitung sein, kannst du mir die bitte geben?” Wirklich hilfreich war das allerdings nicht, denn von einem Fehler in der Motorelektronik bis zu Problemen im Abgassystem war so ziemlich alles möglich. Daher beschloss ich, die 24- Stunden- Notrufnummer von meiner Werkstatt zu nutzen- “zögern Sie nicht, uns anzurufen, wir sind immer für Sie da!” hatte die Chefin noch gesagt. Na, dann wollen wir mal sehen. Tatsächlich ging wer ran- und 5 Minuten später gab es Entwarnung. Ich durfte erst mal weiterfahren, sollte aber am nächsten Tag vorbeikommen um den Fehlerspeicher auszulesen.
Bei Oma angekommen brachten Nadine und ich das Internet zum Laufen, da sie unbedingt noch an ihrer Bachelorarbeit arbeiten wollte. Diese Zeit nutzte ich um im Bad zu verschwinden und zu tun, wonach die Sucht verlangt. Himmel, wann hatte ich zuletzt bei Oma übernachtet? Das musste mindestens 13 Jahre her sein. Und so hatte ich komplett verdrängt, dass die Badezimmertür so verzogen war, dass sie sich nicht mehr schließen ließ- geschweige denn ABschließen. Oh verdammt. Schon alleine bei der Vorstellung, meine Oma oder meine Schwester würden mich dabei erwischen, bekam ich Gänsehaut. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, sie mögen meine Privatsphäre wahren und sich nicht über meinen doch etwas längeren Aufenthalt im Badezimmer und das häufige Nutzen des Wasserhahns wundern, und machte mich an die Arbeit. Ich war heilfroh, als ich trotz Nervosität auf Anhieb traf und ich kurz darauf die verdächtigen Utensilien in meiner Reisetasche verschwinden lassen konnte.
Ziemlich bald danach ging ich ins Bett, sonst wäre ich wohl am Sofa eingeschlafen. Dass Nadine 30 Minuten später folgte, bekam ich schon gar nicht mehr mit.