Skills explizit für Betroffene der (p)DIS



Was sind Skills?
Manche kennen das Wort "Skills" aus der dialektisch-behavioralen Therapie (DBT), manche haben davon bereits etwas in Kliniken / ambulanter Therapie oder von anderen Betroffenen gehört oder gelesen.

Unter Skills versteht man im Sinne der Psychotherapie allgemein, Fertigkeiten oder Methoden, die einem in (belastenden) Situationen unterstützen.

Für Betroffene der (p)DIS und/oder kPTBS lassen sich die typischen Methodiken aus der DBT wie Skillstraining oder Notfallkoffer oft nicht gut anwenden. Bei hochdissoziativen Menschen können die typischen Vorschläge wie "Chillischote essen oder den Körper gedanklich scannen" ins Gegenteil umschwenken.
Bereits 2011 hat eine Studie ergeben, dass Betroffene der "Borderline Persönlichkeitsstörung" mit einem hohen Dissoziations-Wert, schlechter auf die DBT & die Anwendung der integrierten Skills-Methodik ansprachen [1].

Auch der Betroffenenrat hat eine Online-Umfrage durchgeführt und das Resultat in einem PDF zur Verfügung gestellt [2]. Es wird unter anderem konkret auf die dissoziative Identitätsstörung und dem Nutzen von DBT eingegangen.

Skills sind für Betroffene der (p)DIS trotzdem ein wertvoller Schatz, den man jeder Zeit erweitern und justieren kann. Jedoch müssen die Skills niederschwelliger angesetzt werden, um das traumatisierte Nervensystem behutsam in eine bessere Richtung zu lenken.

Wobei können Skills helfen?

Vorwort: Nicht jeder Skill hilft in jeder Situation gleich, ist für das System nützlich, kann jedem Anteil den gleichen Nutzen bringen und sollte auch immer bei Bedarf hilfreich justiert werden.
Das bedeutet: Skills sollten niederschwellig und mit Achtsamkeit getestet werden, öfters ausgetestet werden und ggf. in der ambulanten Therapie ein Thema sein, denn je nach Hintergrund braucht es eine Justierung.
Insbesondere Betroffene mit "organisierte Gewalt" im Hintergrund sollten in der Therapie gemeinsam Skills erarbeiten.

• Bei dissoziativen Zuständen kann eine Reorientierung in die Gegenwart oder das Hier und Jetzt schneller erreicht werden (Depersonalisation, Derealisation, Stupor etc.)
• Bei der Reorientierung in welchem Jahr man sich aktuell befindet, als Anker für die "Jetzt-Zeit"
• Bei aufkommenden destruktiven Impulsen und ggf. folglicher Dissoziation
• Bei Angst-und Panikgefühlen im Anfangsstadium / innerer wahrgenommene Unruhe
• Beim "Dableiben", wenn sich ein Wechsel erkennbar ankündigt oder beim schnelleren zurückfinden in die Handlungsfähigkeit
• Erweiterung des Stresstoleranz-Fensters [3]
• Ein Sicherheitsgefühl zu etablieren, schneller zurück in die Handlungsfähigkeit zu finden und etwas mehr Kontrolle zu erfahren, in gefühlt unkontrollierbaren Zuständen

Wobei helfen Skills nicht?

Skills helfen nicht dissoziative Zustände in der Häufigkeit zu reduzieren oder die Auslöser zu elemenieren.
Sie ersetzen keine Traumatherapie, sondern sind als begleitendes Werkzeug zu verstehen.
In starken Zuständen der Traumatrias (Hyperarousal / Hypoarousal / Flashback [Siehe Begriffe]) können Skills meist nicht gut angewendet werden, in solchen Situationen kann es helfen auf die Vergangenheit zu schauen:
"Was hat mir bereits Erleichterung gebracht? Was hat die Dauer etwas verkürzt? Mit welchem Sinnes-Kanal kann ich mir etwas helfen?"

Wie kann man Skills etablieren?
Es gibt unendlich viele Helferlein, die einem durch bestimmte Emotions-Zustände durchhelfen können.
Das heißt auch, dass man sehr viele Skills testen muss und nicht gleich aufgeben darf, wenn Sie nicht sofort die gewünschte Wirkung haben.

Beispiel:
"Ich befinde mich in einem dissoziativen Zustand des Entfremdungs-Gefühls. Bevor ich herausfinden kann, warum es dazu kommt, muss ich erst wieder in die Handlungsebene zurückkommen. Das kann mir mit einem Helferlein gelingen.
Ich merke, dass ich mich entfremdet fühle und teste ob es sich verändert, wenn ich an einer Orange schnupper.
Vielleicht kommt ein Gefühl von "oh das riecht lecker", aber noch keine Verbesserung des Zustandes.
Also probiere ich andere Gerüche aus, wie an der Lieblingsseife riechen, mal das Kuschelhemd in die Hand nehmen etc.
Folglich habe ich ein paar Skills ausprobiert und merke, wie das Entfremdungsgefühl etwas abklingt.
Ich stelle fest: Gerüche sind grundlegend eine Idee, ich brauche mehr als nur einen Geruch, zum Beispiel eine Kette von Skills.
Nächstes Mal versuche ich es gleich mit der Kette und schaue, wo ich etwas justieren muss."

Hilfreich kann sein, manche Skills unter Umständen an Routinen zu binden. In unserem Workshop zur Routine etablieren, haben wir (=die Teilnehmer) festgestellt, dass es hilfreich sein kann eine Routine an eine neue zu knüpfen. Wenn man bspw. morgens immer wieder ein Problem mit dissoziativen Zuständen hat, kann man eine Skills-Kette an das allmorgentliche "Ich füttere die Katze" ansetzen.

Das Wichtigste ist: Sich aufschreiben, was bei welcher Situation bereits geholfen hat und diese Information dem System verfügbar zu machen. Dran bleiben, neugierig bleiben und nicht aufgeben! Alle Emotionen können reguliert werden!

Ideen-Sammlung für konkrete Situationen / Anregungen


Bei dissoziativen Zuständen
Deperesonalisation

"Mein Körper fühlt sich beängstigend fremd an, ich spüre ihn nur noch dumpf und von mir losgelöst"
Erdungs-Skills nutzen, mit den Füßen aufstampfen, Kreislauf anregen (Lauwarm / Warm Dusche an Füßen oder Handgelenken), taktile Bälle in die Hand nehmen, laut singen, ein Video mit tanzschritten ansehen und nachmachen, Daumen mit Fingern abwechseln zusammendrücken, Muskeln anspannen und entspannen.

Derealisation
"Mein Zimmer fühlt sich bedrohlich an, alles wirkt fremd, ich erkenne nichts mehr, ich bin abgetrennt von der Umgebung"
Spazieren gehen, frische Luft schnappen, Wand anfassen und spüren wie die Beschaffenheit ist, sich einen Witz erzählen lassen oder lesen, Tier-Videos ansehen und sie kommentieren, Zimmer / Ort wechseln, Kontakt mit haustier aufnehmen / Fotos ansehen, mit anderen reden über belangloses, kaltes Wasser trinken.

Dissoziativer Stupor
"Ich sacke in mich zusammen und kann mich plötzlich nicht mehr willentlich bewegen, nicht reagieren, nicht sprechen"
Taktile Bälle in der Umgebung haben (Igelball, Rubbabu etc.), Duftöl, Aroma-Diffusor, Kuscheltier und Nachtlicht, Prüfen was man bewegen kann, mit dem kleinen Zeh wackeln, den Finger vorsichtig bewegen, Augen langsam bewegen, Schritt für Schritt Hand / Arm / Fuß bewegen, klein anfangen, Prüfen, was unter Kontrolle ist, langsam Atmen, Augenbraue versuchen hochzuziehen, prüfen welche Muskeln reagieren können, Realitäts-Check: Welches Jahr haben wir? Welcher Wochentag? Sich sagen, dass man jetzt sicher ist, Orientierungsblicke, Fokus im Raum setzen, auf einen hilfreichen Gegenstand versuchen zu blicken, 5-4-3-2-1 Übung / 4711-Übung

Erdung bei beginnenden Wechsel / Switch
"Ich fühle mich als würde ich in einem Sog verschwinden, ich derealisiere / depersonalisiere gleichzeitig, aber noch bin ich da"
3x langsam einen Schnürsenkel binden, Hand auf den Bauch legen und atmen / Hand auf das Herz legen und atmen, mit den Händen klatschen, beim Auftsampfen auf den Boden ausatmen, 54321-Übung (5 Dinge die du siehst 4 Dinge die du spürst 3 Dinge die du berühren kannst 2 Dinge die du schmeckst 1 Sache die du riechst?~), 4711-Übung (4 Sekunden einatmen 7 Sekunden aus und 11 Mal wiederholen), gut riechende Öle, Hände aneinander reiben, taktile Bälle.

Reorientierung
"Wo bin ich gerade? Ich verstehe nicht, was ich hier gerade soll, wer bin ich?"
Anker suchen, Kalender ansehen, Datum sich sagen lassen, in sich reinsprechen in welchem Jahr man ist, Bilder ausdrucken und ansehen, Dinge die man dieses Jahr gekauft hat anfassen und genau betrachten, Schmeichelstein finden, Smalltalk mit anderen Menschen, laut Musik hören und mitsingen.

Spannungsreagulation / destruktive Druckimpulse
"Ich kann die Anspannung nicht mehr aushalten und will mir akut Schaden zufügen"
Tetris spielen, taktile Bälle, scharfe Kaugummis, Gummiband ums Handgelenk und schnippsen, Mundwasser gurgeln, Kältekompresse auflegen, Knete kneten, Brausetabletten probieren, Duftöl riechen, Kissen boxen, Liegestütze, Seil springen.

Skills für unterwegs
Eine kleine Skills-Notfalltasche etablieren mit bspw. folgendem Inhalt:
Fotos von lieben Menschen, Schriftstück des Therapeuten, kandierte Früchte, Duftöl-Fläschchen, Zettel und Stift, Halskette die man mag, Handy mit Apps, Bedarfmedikation, Duftspray, Bonbons.

Skills für bspw. das Handy
• Body2Brain von Verlagsgruppe Random House GmbH
• Skills – Achtsamkeit & Stresst von Vacay GmbH (Ja mit T bei Stress)
• PTSD Coach von US Department of Veterans Affairs (VA)
• Safe Place von Rädda Barnens Riksförbund

Denkt daran, das sind alles nur Beispiele, die dazu animieren sollen, eigene Methoden zu finden.

Nur Mut!

Liebe Grüße,
Linehme


[1] Dissociation Predicts Poor Response to Dialectial Behavioral Therapy in Female Patients with Borderline Personality Disorder https://doi.org/10.1521/pedi.2011.25.4.432

[2] Erfahrungen mit der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) im deutschsprachigen Raum
https://beauftragte-missbrauch.de/presse/artikel?tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Bnews%5D=173&cHash=2a2cd34457b9073b6624d71b878ff2af

[3] Was ist eigentlich das Window of Tolerance?
https://www.trauma-informiert-leben.de/was-ist-eigentlich-das-window-of-tolerance/

[4] Begriffe
https://www.dissoziation-forum.de/index.php/multiplizitaet/verstehen-lernen/begriffe

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