Das Interview mit einem Betroffenem der
Ego-State-Disorder


Oftmals ist es genau das: ein Wirrwarr von Diagnosen, nichts Halbes und nichts Ganzes, von jedem stimmt etwas aber auch nicht alles. Auch wenn die Ego-State-Disorder nicht diagnostiziert wird, da es momentan noch zur dissoziativen Störung nicht näher spezifiziert dazugehört, kann man sich genau darin wiederfinden, was Menschen dabei beschreiben.

Um ein wenig mehr Transparenz in diese vielschichtigen dissoziativen Strukturen möchte ich euch ein Interview mit einem Betroffenen, der sich nicht als "völlig abgespalten" aber auch nicht als ein einziges "völliges Ich" wahrnimmt, vorstellen:

Joshua (Namen zur Sicherheit geändert, diesen hat er selbst ausgewählt) ist zum heutigem Zeitpunkt männliche, 26 Jahre jung. Er lebt alleine, fast schon wie ein Einsiedler und hat nur über das Medium Internet Kontakt zu anderen Menschen. Joshua ist erwerbsunfähig geschrieben worden, hat keine Ausbildung abschließen können und bestreitet sein Leben jeden Tag aufs neue in seinen Regeln und sekündlich ändernden Lebensvorstellungen. Mal gelingt es besser, mal gelingt es schlechter, aber eines hat er in seinen jungen Jahren schon erreicht: Er hat überlebt.
Denn in seiner frühkindlichen bis jugendlichen Vergangenheit hat er viel überleben müßen:

Ein herrischer, emotionskalter Vater, der psychische Gewalt an ihm ausgelebt hat, eine Mutter, welche durch ihre Medikamentenabhängigkeit und schweren psychischen Störungen statt einer liebenden helfenden Mutter, ein Wechselspiel von Gut- und Boshaftigkeit, ihre Kinder traktierte sowie Geschwister, welche all dem hilflos ausgeliefert waren.
Zusätzlich zu diesem schwierigen Familienbild zeichnet sich der Vater anhaltend durch die "Weitergabe" Joshuas an ein pädophiles Paar besonders gewaltätig aus. Er hatte keine helfende Hand, keinen unterstützenden Verwandten, keine Hilfe, welche irgendwie das Leid abmildern konnte, oder zumindest einen vertrauten Menschen, dem er all das hätte erzählen konnte.
In seinen jungen Jahren war es Joshua nur möglich das alles zu überstehen und zu überleben, indem er sich in seine Phantasiewelten zurückzog, sich einen Raum schaffte, der Jenseits von all dem Grauen war. Doch dies reichte nicht um die junge Kinderseele zu schützen, er entwickelte entsprechend der Situationen Ich-Rollen, jede für sich war er, aber diese wurden immer stärker und andauernder benötigt um zu überleben.

Heute kämpft er alltäglich mit seinen States, stark ausgeprägte Rollen / Anteile seiner selbst, welche so kongruär denken wie auch handeln können. Einer seiner States hat mittlerweile auch einen guten Kontakt zu einem Geschwisterteil aufgebaut, endlich ein Stück Boden, zwischen all dem Nichts und dem Grauen. Zwar hat der Geschwisterteil damals nie eingreifen können, konnte ihn nicht beschützen, aber dieser war ihm mehr noch ein Vater, als der eigene.
Joshua ist nun in Therapie, dies ist nicht seine erste, aber seine erste selbst erarbeitete Austauschmöglichkeit, welche er freiwillig besucht und dort hart an sich arbeitet, wie jeden Tag. In der Therapie wird er ziemlich schnell nach der Ego-State-Therapie behandelt (trotz, dass er nie seine Erlebnisse mit sexualisierter Gewalt erzählte) und er hat seine Anteile erkannt und kann diese nun auch formulieren:


Linehme: Joshua, wenn du nun in dich reinfühlst, was fühlst du ?
Joshua: Ich spüre die Anwesenheit meiner Anteile.

Linehme: Wieviele States konntest du mittlerweile in der Therapie ausarbeiten?
Joshua: Ich habe 8 Anteile in mir, jeder hat eine eigene Geschichte und in der Therapie konnte ich diese identifizieren.

Linehme: Wie würdest du den Moment beschreiben, wenn du "plötzlich anders" bist?

Joshua: Es ist für Aussenstehende oft sehr befremdlich in solchen Momenten, aber ich weiß genau "Ich fühle mich nicht anders, ich bin immer ich" und dies zu jedem Zeitpunkt. Dies ist anders als bei Menschen mit einer dissoziativen Identitätstörung oder einer DSNNS, ich habe keine "Namen" für diese States und höre auch keine anderen Stimmen in meinem Kopf, aber trotzdem sind alle 8 für sich sehr ausgeprägt, so stark, dass sie mein Leben beeinflussen und auch beeinträchtigen. Ich empfinde es wie eine sehr sehr starke Phase einer völlig anderen Lebensrichtung.

Linehme: Könntest du mir diese States beschreiben?
Joshua: Wie auch bei Menschen mit einer DIS etc. habe auch ich soetwas wie ein Alltagsteam, ein sehr präsentes Trio welches ich als Alltags-Ich wahrnehme:

An der Spitze dieses Teams steht der "Berserker", ein alles vernichtender Anteil, ohne Mitleid und Einfühlungsvermögen. Er ist nicht dazu da mich zu schützen, sondern um etwas aktiv gegen die momentane Streßsituation zu unternehmen. Als Ziel sieht dieser Anteil sich möglichst aggressiv und brutal gegenüber anderen Menschen zu verhalten um bei seinem Gegenüber Angst zu erzeugen. Wenn ich in diesem Zustand bin, habe ich einen Satz in mir: " Es ist mein verdammtes Recht zu tun was, wo und wie ich will". Durch ihn kann ich mich in der Öffentlichkeit bewegen, was mir sonst durch meine soziale Phobie nicht möglich wäre.
Wenn ich ihn beschreiben müßte würde ich sagen, er ist ein völlig erschöpftes Wesen, eine Mischung aus Mensch und Ding, seine Hände nehme ich groß und knöchern wahr, er ist riesig und hat zerfetzte Kleidung an sich. Er trottet immer voran, sogar noch vor dem "Bären".

Gleich neben dem "Berserker" ist bei mir ein stark beschützender, fast schon väterlicher Anteil, der sich sehr gerne um andere Menschen kümmert und seine Klauen ausfährt, wenn ein ihm wichtiger Mensch in Not gerät. Ich habe bei ihm immer das Bild eines großen Braunbären, der sich schützend über alles legt.

In der Hand des Bären ist ein weiterer State: Das Kind.
Es fühlt sich wie ich selbst mit 8 Jahren an und ist extrem ängstlich, wie ein Häufchen Elend, welches sogar Angst vor Wolken haben kann. Dieser Anteil ist meistens nur wenige Minuten vorhanden, da sofort der "Berserker" hervortritt und "seinen Modus" wählt. Durch den Schutz des Bären kann dieses Kind sich überhaupt nach vornebewegen, ist aber immer im Alltagstrio vorhanden.

Es gibt auch noch andere, unteranderem ein gesunder Anteil, der gerne lebt, Spaß hat, agil ist und Sport betreibt und sehr lebensbejahend durch die Welt geht.
Weiterhin einen Funktionsanteil, der immer das gleiche Programm abspult, aber völlig emotionslos alltägliche Dinge übernimmt, wie Ämtergänge und Anrufe, aber auch sehr apathisch wirken kann.

Ebenso einen Einsiedler, welchen ich wie ein Eremit in einer Blockhütte lebend beschreiben würde, den "Normalzustand", welcher ein Mix aus Fröhlichkeit, Funktionieren, Einsiedlerdasein und Kindanteil beinhaltet, ein weiteres inneres Kind, welches starke Zuneigung und Geborgenheit sucht, sehr kreativ und phantasiereich ist und einen gesunden Anteil, der völlig beschwerdefrei und gesund erlebt wird.

Linehme: Joshua, vielen Dank für deinen inneren Einblick!


Dieses Interview zeigt einen kleinen Einblick in die innere Landkarte des Betroffenen Joshuas und vielleicht hilft es dem ein oder anderen Menschen ein wenig mehr sich selbst zu verstehen.

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