Oft lese oder höre ich die Problematik von Betroffenen: "Ich passe so überhaupt nicht in das typische "Schema", welches ich über Betroffene einer (p)DIS lese oder sehe. Das nährt meine Zweifel, irgendwie passe ich nirgends richtig rein."
Jeder Betroffene mit dissoziativer Identitätsstruktur / mit struktureller Dissoziation ist individuell zu betrachten, jedoch hilft es manchmal zu sehen, dass auch abseits der Regel und des Buches, weitere oder andere Formen bestehen.
Daher möchte ich über die unterschiedlichen Typen der Strukturellen Dissoziation schreiben.

Inhalt:

Hochfunktionale (partielle) dissoziative Identitätsstörung
Geringfunktionale (partielle) dissoziative Identitätsstörung
Reaktive (partielle) dissoziative Identitätsstörung
Intendierte dissoziative Identitätsstörung
Partielle dissoziative Identitätsstörung Typ 1
Partielle dissoziative Identitätsstörung Typ 2
Dissoziative Identitätsstörung Typ 1
Dissoziative Identitätsstörung Typ 2

Kategorien [1]

Hochfunktionale (partielle) dissoziative Identitätsstörung "High functioning DIS" [2]

Menschen mit DIS, die ein hohes Leistungsniveau erreichen in Ausbildung, Beruf und/oder Familie (z.B. ein Studium abschließen, beruflich sehr erfolgreich sind)

Zu beachten ist dabei, dass Menschen mit "High Functioning DIS" therapeutisch oft nicht unbedingt die bessere Prognose haben, da ihr hoher Leistungsanspruch und ihre Angst, durch eine Therapie weniger leistungsfähig zu sein, einer vertieftenden Therapie im Wege stehen kann. [3]

Als ich damals das Forum 2016 für "hochfunktionale Systeme" gegründet habe, wusste ich noch nicht, dass der Begriff "High functioning DIS" in der Fachwelt erwähnt wird.
Ich habe selbst die Beobachtung zwischen den beiden Kategorien gemacht und festgestellt, dass es hilfreich ist, wenn die Zielgruppe genau definiert wird.
In meiner Erfahrung, sind besonders Betroffene mit hfDIS große Meister im "Verstecken" und im "Anpassen".
Viele arbeiten relativ unauffällig in ihren Berufen, organisieren die Familie, haben bspw. auch Kinder, oftmals eine Ausbildung oder studieren / haben ein abgeschlossenes Studium oder organisieren ihren Alltag auch ohne Arbeit und Familie/Kinder strukturiert.

Der Preis hierfür ist hoch, Zusammenbrüche sind keine Seltenheit, jedoch ist die Diskrepanz zwischen dem Innen-Erleben und dem Außen-Eindruck sehr unterschiedlich. Selten wird vom Umfeld der immense Druck und der chronische teils toxische Perfektionismus erkannt.
Sie wirken oftmals sehr eloquent, gesammelt, selten erkennt man von außen einen Wechsel zwischen den Anteilen.

Das besondere Problem ist, dass sie zwar dem Bild entsprechen, was ggf. auch von damals erzwungen wurde, jedoch wird das innere Leid als unerträglich erlebt. Das Umfeld erwartet oftmals die gleichen 110% die der Betroffene einer hfDIS an den Tag legt.
Dies wiederrum führt teilweise zu anhaltenden dissoziativen Zuständen, sogenanntes umgangssprachliche "wegdissen" der Problematiken, die sich aus dem inneren oder äußeren Zwang an Perfektion ergeben.
In der Therapie gibt es besondere Probleme, einerseits, weil es schwierig ist mit Kern-Symptomatiken zu arbeiten da von außen "doch alles funktioniert", andererseits, weil die hochfunktionalen Anteile (ANP´s) Berührungspunkte mit Kern-Problematiken deckeln, verweigern darüber auch nur zu sprechen oder gänzlich die Therapie blockieren (können).

Dies dient alles dem Schutz des Systems, die Funktionalität hat höchste Priorität, besonders erschütternd, wenn diese unterbrochen wird.
Viele fühlen sich ständig am Limit, man erwartet den Zusammenbruch, organisiert ggf. auch diesen gezielt. Traumainhalte werden oft weit weggeschoben, die Alltags-Anteile / das Alltags-Team ignoriert oder überdeckt Anteile mit Trauma-Wissen, verweigert gerne auch mal deren Existenz, sind teils höchst phobisch gegen "Nicht-Funktionieren".
hfDIS bedeutet nicht, dass keine externe Unterstützung ins Helfernetz integriert wird. Oftmals finden sich unterschiedliche Therapieangebote, von Ergo-Therapie, über Tagesklinik-Aufenthalte oder alternativer Medizin im hochstrukturierten Terminplan.

Zweifel, Scham, Überbelastung, die Balance zwischen Erfolg und Systemzusammenbruch, das sind aus meiner Erfahrung typische Kennzeichen von Menschen mit hochfunktionaler dissoziativer Identitätsstruktur.

Der Preis für das hochfunktionale Außenbild ist hoch und nicht minder mit großen Risiken verbunden.

 

Geringfunktionale (partielle) dissoziative Identitätsstörung "Low Functioning DIS"

"Menschen mit DIS, die aufgrund der Störung nicht allein leben können und konstant auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen sind, eine Rente beziehen und oft in Kliniken behandelt werden müssen" [3]

Nicht weniger kompliziert ist es für Betroffene mit der Notwendigkeit anhaltend Unterstützung von außen (betreutes Wohnen, ständige Intervall-Therapie im vollstationären Umfeld etc.) zu organisieren.
Ein ständiger innerer Kampf zwischen Anteile-Bedürfnissen, fehlender Bindung und dem immensen Kraftaufwand sich "über Wasser" zu halten, übersteigt immer wieder die eigenen Kräfte.
Oftmals fühlt sich das System sehr alleingelassen mit sich selbst und den Schrecken aus der Vergangenheit, jedoch ist der Überlebenswille stark und immer wieder wird ein neuer Versuch gestartet, mehr Lebensqualität zu erlangen.

Viele Betroffene haben neben körperlichen Erkrankungen auch einige Merkzeichen in ihrem Schwerbehindertenausweis.


Hinweis: Das Leiden eines Menschen mit dissoziativer Identitätsstruktur wird nicht durch Typen & Kategorien erfasst, jedoch hilft es auch etwas über den Tellerrand hinauszublicken. Besonders wenn man nicht zum "typischen Vorzeige-Huber-Multi" gehört (so habe ich es einmal von einem Betroffenen gelesen).

Hintergrund

Reaktive (partielle) dissoziative Identitätsstörung

Betroffene einer reaktiven (p)DIS haben sich "natürlich" und als starke Überlebensreaktion strukturell dissoziiert. Das bedeutet, es wurde "natürlich" auf langanhaltende (frühkindliche) Traumatisierungen mit Dissoziation reagiert.

Beispiel:
Franz wurde bereits als "ungewolltes" Kind geboren. Der Vater hat mit anhaltender Gewalt auf das unerwünschte Kind reagiert, war selten zu Hause und wenn, wurde Franz jegliche Ablehnung und Gewalt zuteil.
Immer wieder kommt es zu emotionalen und physischen Traumatisierungen, welche das Kind ständig und nachhaltig erschütterten.
Franz´ Mutter, selbst psychisch durch eine unbehandelte schwere Depression eingeschränkt, konnte sich nicht emotional um das Kind kümmern. Zwar wurde Franz mit Essen und Trinken versorgt, jedoch fehlt sämtliche Zuwendung und Liebe.
Weder Bezugspersonen, noch ihm wohlgesonnene Menschen im Umfeld lernt Franz kennen. Das Kind kommt also in einer katastrophalen Umgebung zur Welt und lernt, dass es auf sich allein gestellt ist - bereits in den ersten Lebensjahren.
Als kreative Überlebensmethode, und auch weil es keine anderen Möglichkeiten kennengelernt hat, bildet sich in Franz Fall auf Dauer die strukturelle Dissoziation heraus.
Franz lernt bspw., dass wenn es einer bestimmten Erwartungshaltung der Eltern entspricht, etwas weniger Gewalt und manchmal auch ein höfliches Wort eintritt.

Dies ist nur ein sehr vereinfachtes Beispiel, soll jedoch zeigen, dass der Überlebensmechanismus als natürliche Überlebens-Strategie ohne beabsichtigte Dissoziation von außen entwickelt hat.

Intendierte dissoziative Identitätsstörung

Dieser Begriff ist ein Neologismus meinerseits um den Hintergrund in ein umfassendes "Wort" zu packen, ohne etwas auszuschließen.
Intendieren bedeutet: "auf ein bestimmtes Resultat hin zielend; mit einer bestimmten Intention, beabsichtigen / vorsehen".

Betroffene mit einer intendierten dissoziativen Identitätsstörung (absichtlich ohne partielle!) wurden von außen, also einer Organisation, einer Struktur, einer Vereinigung (Pädokriminalität, Sekten, rituelle Vereinigungen etc.) beabsichtigt in die strukturelle Dissoziation gebracht.
Das bedeutet, dass der betroffene Mensch mit Konditionierungen und / oder Programmierungen bewusst gespalten wurde um den Menschen für bestimmte Handlungen abzurichten.
Die systematische körperliche und physische Gewalt, wie sie in Gruppierungen ausgeübt wird, "erschüttert" den Menschen, der nicht selten in so eine Vereinigung hineingeboren wird, meist bereits von Geburt an.
Ich spreche hierbei auch von polyfragmentierter DIS, da Betroffene mit diesem Hintergrund fast immer extrem viele Anteile / Identitäts-Fragmente in sich haben um das Ausmaß der Gewalt einerseits zu kompensieren und andererseits sich dies auch reaktiv gebildet hat.
Persönlich ist mir nur die vollausgeprägte dissoziative Identitätsstörung bei intendierten Systemen bekannt.

Ein großes Problem von intendierten Systemen ist, dass bereits bei der mutwilligen Erschaffung der Anteile, mit Drogen, Verwirrung und irreparabler Angst gearbeitet wurde, so dass die Erinnerungen derartig fragmentiert sind, dass es schwer für unerfahrene Außenstehende ist, den Schilderungen Glauben zu schenken oder überhaupt einzuordnen.
Sie unterscheiden sich von reaktiven Systemen einerseits mit der Polyfragmentierung und andererseits mit der unbedingten Notwendigkeit sehr versierte Therapeuten an der Hand zu haben, die wissen, wie der Umgang mit bewusst gesteuerter Konditionierung / Programmierung funktionieren kann.
Oftmals sind die Problem-Themen zwischen reaktiven und intendierten Systemen auch unter Betroffenen unterschiedlich.

Typen [3]

 


Partielle dissoziative Identitätsstörung Typ 1

Merkmal: Teildissoziiertes Handeln bei Stress
In Stress-Situationen, wie Trigger-Momenten, Intrusionen, Über- oder Unter-Forderung, also in nicht typischen Alltags-Situationen kommt es zu teildissoziiertem Handeln.

Beispiele:
• Fähigkeiten verschwinden in Stress-Situationen oder es ist nur möglich in bestimmten Situationen auf die Fähigkeiten zuzugreifen.
Kreative Talente wie Malen, Musizieren oder Sprachen beherrschen, Wissen aus dem Studium oder der Ausbildung geht "verloren". Eventuell können bestimmte Fähigkeiten bestimmten Anteilen zugeordnet werden, die mit ihrem "Verschwinden" auch ihre Fertigkeiten mitnehmen.
• Plötzliches Verschwinden von Orientierung oder fehlendes Erinnern von Wissen, welches normalerweise vorhanden ist (Name, Geburtsort, Adresse etc.)
• Sich weit weg fühlen, bei destruktiven Verhaltensweisen als Kompensation von bspw. Triggern

Partielle dissoziative Identitätsstörung Typ 2

Merkmal: Teildissoziiertes Handeln im Alltag
In typischen Alltags-Situationen, wie im Beruf, im Eltern-Sein, bei der Ausübung von Hobbys, Körperpflege, also in typischen Alltags-Situationen kommt es zu teildissoziiertem Handeln.

Beispiele:
• Bei dem was man gerade tut nicht wirklich "da" zu sein, man beobachtet sich anhaltend selbst, als könnte man nicht willentlich eingreifen
• Die Übernahme von einem Anteil in bestimmten Situationen (ohne Amnesie) wie Körperpflege, Nahrungszunahme, beim Haushalt
• Fehlende Kontrolle in Gesprächen, Themen und Gesprächsfetzen werden wie nicht von mir gewollt wahrgenommen, Worte purzeln "einfach so raus", Scham ist oftmals eine Folge davon


Dissoziative Identitätsstörung Typ 1

Merkmal: Volldissoziiertes Handeln mit Amnesien bei Stress
Besonders bei Stress-Situationen wie Trigger, Reize von außen, Situationen

Beispiele:
• Einem fremde Menschen begrüßen einen mit einem unbekannten Namen (Achtung, besonders auch bei intendierten Systemen muss darauf besonders geachtet werden)
• Sich plötzlich in Situationen auffinden, in Straßen oder Läden, ohne zu wissen, wie man überhaupt dorthin gekommen ist
• Das Bemerken von destruktiven Verhaltensweisen nachdem sie passiert sind, bspw. wacht man im Badezimmer auf und findet sich nach einer bulemischen Attacke wieder, findet Verletzungen ohne zu wissen wie / wann / wo das passiert sein soll
• Aufwachen in einer neuen äußerlichen Situation wie komplett umgeräumtes Zimmer mit vorherigem Stress, Gegenstände sind plötzlich woanders einsortiert oder komplettes Chaos ist entstanden ohne Erinnerung daran
• Nach einer (triggernden) Begegnung findet man sich in einer fremden Wohnung wieder oder ist in einer gefährlichen Situation, findet sich in der Psychiatrie wieder - mit Amnesie zum Hergang


Dissoziative Identitätsstörung Typ 2 [3]

Merkmal: Volldissoziiertes Handeln mit Amnesien im Alltag

Beispiele:
• Während des Aufräumens fehlt Zeit, ein anderer Anteil hat die Aufgabe übernommen
• Vor dem Einkaufen kommt ein Wechsel zustande, mit fehlender Erinnerung zu dem was eingekauft wurde
• Kommunikation über Chats, E-Mails, Briefe und Co. wird entdeckt, ohne sich daran erinnern zu können diese initiiert oder überhaupt begonnen zu haben
• Besitztümer wie Bahntickets, Termine, Zettel, manchmal auch Handys oder Klamotten, Süßigkeiten, Nahrungsmittel usw. werden aufgefunden, bei denen sich nicht erklären lässt, woher sie kommen
• Immer wieder im Alltag entstehen Lücken, mal mehr, mal weniger bewusst

Linehme
 

[1] Kluft, Richard P.N.D. 1986 & Van der Hart und Mitarbeiter 1998
[2] Kluft, "High-Functioning Multiple Personality Patients" 1986
[3] Gysi, Diagnostik von Traumafolgestörungen 2021


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